Sonntag, 9. November 2014

Fragment #14: Der Läufer

Lange schon ist der Läufer auf seiner Strecke unterwegs, als er erkennt, dass er geradewegs ins Dunkel läuft. Er hebt die Hand vor Augen und sieht sie nicht. Er blickt hinab, doch da sind keine Beine und Füße, die irgendeinen Boden berühren. Alles, was er jetzt weiß und spürt, ist, dass er nun steht, zitternd und fröstelnd von der plötzlichen Kühle, die ihn umgibt. Es ist ihm, als wäre er schon immer gelaufen, von Anbeginn der Tage, ohne je zu rasten und zu ruhen. Und jetzt, da er zum ersten Male steht, fühlt er das Blut in seinen Schläfen pochen, spürt sein Herz laut schlagen. Schnell geht sein Atem, die Brust hebt und senkt sich unentwegt in flachen Zügen. Er spürt die Hitze in sich, doch von außen hüllt ihn die Kälte des trocknenden Schweißes ein.

Und mit einem Schlag versteht er nun, dass es ein Tunnel ist, in den er geradewegs hinein gelaufen ist. Der Atem stockt ihm, er wendet den Blick nach links und rechts und über sich, doch alles, was er sieht, ist nur undurchdringliches Schwarz. Und auch direkt vor ihm ist kein Ende abzusehen: Der Tunnel, in den er geradewegs hineingelaufen ist und in dem er nun atmend steht und zittert, muss endlos sein.

Eine Zeit lang steht er so im Dunkel und versucht zu begreifen. Langsam kühlt das Blut in ihm ab, das Pochen verschwindet aus seinen Schläfen, der Atem geht tiefer und langsamer. Doch in seinem Kopf bleibt eine Leere zurück. Er versucht sich zu konzentrieren, die Kraft der Gedanken zu bündeln, doch nichts regt sich in ihm: Die Welt in ihm bleibt so leer und dunkel, wie es die Welt um ihn ist.

Dann jedoch wendet er den Kopf, sieht hinter sich und erblickt den Punkt aus hellem, weißen Licht. Geblendet reißt er die Hände hinauf und den Kopf herum, schließt im Krampf die Augen, denn furchtbar stechend, wie Nadeln fuhren ihm die Strahlen des hellen, reinen Lichts in Augen und tief in den Kopf hinein. Er taumelt und schwankt im Dunkel, leise knirschen die Sohlen auf dem rauen Boden. Ein leiser Schrei entweicht ihm und hallt durch den Tunnel. Er stolpert wenige Schritte rücklings, fällt und liegt. Ein unförmiger, blutig roter Fleck tanzt vor seinen geschlossenen Lidern. Sein Kopf ruht auf dem kalten, feuchten Boden, die Hände liegen zitternd neben seinen Wangen. Er spürt seinen Atem in den Raum entwichen. Sein leiser Schrei hallt noch lange im Tunnel nach.

Eine Zeit lang liegt er nur da und sieht das Rot vor sich tanzen. Fast scheinen es Formen, ja Bilder zu sein, die sich dort vor ihm, in ihm zeigen und bewegen. Er denkt noch einmal an das Licht, das so schmerzhaft in seinen Kopf eindrang und ein Zittern durchläuft ihn. Doch jetzt, wenn er so liegt und sich den Moment in Erinnerung ruft, weiß er, dass dort, hinter all der auf ihn so stechend wirkenden Helligkeit etwas verborgen lag, etwas verborgen liegen musste, das dieses Leuchten erzeugte. Und jetzt, wo das Rot vor seinen Lidern tanzt, glaubt er, einen Abglanz davon in diesen wabernden Formen wieder zu erkennen. Für einen kurzen Moment glaubt er zu erkennen, glaubt er zu sehen, und hält den Atem an. Er erhebt, ohne zu wissen, was er da tut, die Hand, das zu umfassen, was er dort, wenn auch in rötlichen Schemen als Abglanz erkennt, zu greifen, es an sich und zugleich sich selbst zu ihm empor zu ziehen. Da jedoch erkennt er, dass das Rot bereits zu dunkeln beginnt. Die Formen lösen sich auf, werden zu einem dünnen, rötlichen Nebel und verschwinden schließlich ganz. Noch bleibt seine Hand erhoben, doch er weiß bereits, dass das, was sie eben noch greifen wollte, unerreichbar fern, entrückt und unmöglich zu ergreifen ist, schon immer war und auch immer sein wird. So sinkt die Hand zurück auf den kalten, feuchten Boden und liegt.

Nur einförmiges Schwarz bleibt vor seinen Lidern zurück und als der Läufer endlich die Augen öffnet, ändert sich nichts. Bald findet er wieder zu sich, hebt sich zunächst vorsichtig auf die Knie und steht kurz darauf schon wieder mit beiden Beinen auf dem Boden, erst schwankend, dann immer fester. Er spürt, wie langsam und sicher sein Herz nun schlägt, wie tief und ruhig sein Atem ein und aus geht. Die Kühle auf seinem Körper fühlt er schon nicht mehr, denn längst ist der Schweiß getrocknet. Er steht nur da, im Nichts und atmet.

Irgendwann beginnt der Läufer zu laufen, erst langsam, dann immer schneller, bis er seinen alten Rhythmus gefunden hat, der ihn einst in den Tunnel führte. Er wagt es nicht, den Kopf noch einmal zu wenden. Sein Blick bleibt, so glaubt er, nach vorn in das absolute Dunkel gerichtet und es ist diese Richtung, in die er läuft und läuft.